4. November 2016
10. Sozialstaatsenquete von WIFO und Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
Die fortschreitende Digitalisierung hat heute alle Lebensbereiche erfasst und ist auch ein fixer Bestandteil der Arbeitswelt geworden. Sie hat grundlegende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Erwerbsarbeit organisiert wird. Die vom österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger veranstalteten 10. Sozialstaatsenquete befasst sich mit dem Thema „Arbeiten in der Wolke“ – Soziale Sicherung und Sozialstaatsfinanzierung im Spiegel digitalisierter Arbeitsmärkte“. Experten aus dem In- und Ausland diskutieren über Chancen und Risiken für das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt.
„Mit einem Gesamtvolumen von 56 Milliarden Euro ist die Sozialversicherung die tragende Säule, wenn es um ein starkes Sicherungsnetz für die Österreicherinnen und Österreicher geht. Gerade mit Blick auf die Digitalisierung der Arbeitswelt stehen wir vor großen Herausforderungen aber auch gewaltigen Chancen. Bei der Digitalisierung stellt sich nicht die Frage „ob“, sondern „wie“, eröffnet Ulrike Rabmer-Koller, Vorsitzende des Verbandsvorstands im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Flexible Beschäftigungsformen steigern den Wohlstand, weil sie die Beschäftigung erhöhen. Es zeigt sich auch, dass die Mittel der Sozialversicherung seit 1990 konstant genauso so schnell angestiegen sind wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Rabmer-Koller weiter: „Wir können Digitalisierung schönreden oder schlechtmachen – ich würde gerne die Chancen und Risiken einander objektiv gegenüberstellen und möchte dabei eines festhalten: Im Gegensatz zu anderen Ländern sind in Österreich alle Erwerbsformen von der Sozialversicherung erfasst und abgesichert.“
„Der Hauptverband legt besonderen Wert auf den regen Austausch mit der Wissenschaft – auch bei der 10. Sozialstaatsenquete zum Thema ‚Arbeiten in der Wolke. Soziale Sicherung und Sozialstaatsfinanzierung im Spiegel digitaler Arbeitsmärkte’ und ich freue mich, dass das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung als wissenschaftlicher Partner fungiert“, so Rabmer-Koller.
Digitalisierung als Chance
„Die Digitalisierung birgt nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Es entstehen neue und teilweise ganz neuartige Beschäftigungsmöglichkeiten. Das wirft für die Gesellschaft und die Betroffenen wichtige rechtliche, soziale und ökonomische Fragen auf – etwa in Sachen Arbeitnehmerschutz“, sagt Christoph Badelt, Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Ich freue mich, dass sich die Sozialstaatsenquete fundiert mit diesem Thema befasst und so einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte um die Digitalisierung leistet.“
Schutzrechte des Arbeitnehmers nicht aufgebeben
„In einer extremen Ausformung werde der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin zum „digitalen Tagelöhner“, warnt Martin Risak, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien. Das Crowdsourcing ermögliche Unternehmen eine „Just-in-Time-Organisation“ ihrer Produktionsprozesse. „Arbeit soll nur noch dann gezahlt werden, wenn sie tatsächlich geleistet worden ist“, so Risak. „Das führt zur Atomisierung durchgängiger Arbeitsverhältnisse. Das Risiko unproduktiver Zeiten wird auf die Arbeitenden selbst verlagert.“
„Wir dürfen die verbrieften Schutzrechte des Arbeitnehmers - Sozialversicherungen, Mitbestimmungsrechte sowie das Arbeits- und Tarifrecht - nicht aufgeben“, betont Andreas Boes vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München. Der Trend zur digitalen Arbeitswelt berge das Potenzial, den geschützten Status des Arbeitnehmers auszuhöhlen. „Das wäre ein zivilisatorischer Rückschritt.“ Vielmehr müsse man die bewährten sozialen Sicherungssysteme „neu definieren und so den Transfer von der analogen in die digitale Arbeitswelt bewältigen“.
Strukturelle und gesetzliche Anpassung ist gefragt
Thilo Fehmel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Gera in Thüringen, stimmt in den Kanon ein: „Jede Erwerbsform jenseits der Normalarbeitsverhältnisse zeigt die Probleme und den Anpassungsbedarf auf, denen sich insbesondere jene Systeme sozialer Sicherung gegenübersehen, die auf das Erwerbseinkommen abzielen.“
Wie weit verbreitet digitale Plattformen zur Arbeitsvermittlung bereits in Österreich sind, erläutert Sylvia Kuba von der Arbeiterkammer Wien. In einer Online-Umfrage unter rund 2000 erwachsenen Personen gaben 36 Prozent der Befragten an, im vergangenen Jahr versucht zu haben, Arbeit über derartige Plattformen zu finden. Wirklich fündig geworden sind nur rund 18 Prozent. Für viele stellt Crowdwork nur eine Nebenbeschäftigung dar: 59 Prozent der Crowdworker gaben an, dass sie weniger als die Hälfte ihres Einkommens aus diesen Tätigkeiten beziehen. Nur zwei Prozent gaben an, ausschließlich Einkünfte aus Crowdwork zu erzielen.