DRUCKEN

Kosteneffektivität eines bevölkerungsweiten Screenings auf kolorektales Karzinom

Decision‐analytic Modeling for the Evaluation of Effectiveness and Cost effectiveness of Colonoscopy and Occult Blood Tests for a Population‐based Colorectal Cancer Screening in Austria


Beate Jahn and Uwe Siebert on behalf of the Austrian CRC Screening Modeling Group at UMIT

 

Die Ergebnisse des Projekts werden im Oktober 2018 auf dem Kongress der Society for Medical Decision Making (https://smdm.confex.com/smdm/2018/meetingapp.cgi/Paper/11948) diskutiert und für die Publikation in einem Peer-Reviewed-Journal aufbereitet. Nach Veröffentlichung ist der Gesamtbericht hier abrufbar.

 

Einführung / Ziele

Ein bevölkerungsweites Screening auf kolorektales Karzinom (KRK) kann effektiv sein, es gibt aber keine eindeutige Evidenz für das Nutzen‐Schaden‐Verhältnis und die Kosteneffektivität eines auf die österreichische Bevölkerung und das österreichische Setting zugeschnittenen Screeningprogramms für KRK. Das Ziel dieser Studie war die systematische Evaluation der langfristigen Effektivität, möglicher Schäden und der Kosteneffektivität ausgewählter KRKScreeningstrategien im Vergleich zu keinem Screening für Frauen und Männer im Alter von 40‐75 Jahre mit durchschnittlichem KRK‐Risiko in Österreich.

 

Methoden

Es wurde ein entscheidungsanalytisches Markov‐Zustandsübergangsmodell mit Kohortensimulation entwickelt und validiert. Das Modell bildet über den gesamten Lebenszeitraum den natürlichen Verlauf vom krebsfreien Zustand über die Entwicklung eines kolorektalen Adenoms und weiter bis zur Entwicklung eines Karzinoms und dem Tod ab. Im Modell wurden folgende Screeningstrategien bezüglich ihres Nutzens, des möglichen Schadens und der Kosten evaluiert: 1) Kein Screening, 2) immunochemischer Test auf okkultes Blut im Stuhl (FIT) (Alter 40‐75 Jahre, jährlich), 3) Guajak‐basierter Test auf okkultes Blut im Stuhl (gFOBT) (Alter 40‐75 Jahre, jährlich), und 4) Koloskopie (Alter 50‐70 Jahre, alle 10 Jahre).

 

In der vorliegenden Analyse für das österreichische Gesundheitssystem wurden evidenzbasierte epidemiologische, klinische und ökonomische Daten aus Österreich, sowie Informationen zur Güte der Screeningtechnologien aus internationalen Metaanalysen und Studien verwendet und zusammengeführt. Der erwartete Nutzen alternativer Strategien wurde angegeben als gewonnene Lebensjahre (GLJ), verhinderte KRK‐bedingte Todesfälle und verhinderte KRK‐Fälle. Hinsichtlich des Schadens wurden durch Koloskopie verursachte zusätzliche zum Krankenhausaufenthalt führende Komplikationen (körperliche Schäden) und alle positiven Testergebnisse (psychologische Schäden) evaluiert. Bei den positiven Testergebnissen wurden sowohl falsch positive Ergebnisse als auch richtig positive Ergebnisse zusammengefasst, da diese zunächst eine Unsicherheit für die Patienten bis zur weiteren Abklärung bedeuten und einen invasiven Eingriff nach sich ziehen. Die gesundheitsökonomischen Outcomes umfassten die über die Restlebenszeit anfallenden Kosten und die diskontierten inkrementellen Kosteneffektivitätsverhältnisse (IKEVs). Für die gesundheitsökonomische Analyse wurde die Perspektive des österreichischen Gesundheitssystems eingenommen, österreichische Kosten verwendet und eine jährliche Diskontrate von 3% verwendet. Im Basisfall wurde eine Teilnahmerate von 100% für alle Screeningstrategien unterstellt, um den reinen Vergleich der Strategien unbeeinflusst von Screeningteilnahmeeffekten zu gewährleiten. Systematische Nutzen‐Schaden‐Analysen und Kosteneffektivitätsanalysen wurden durchgeführt und in Form von evidenzbasierten Faktenboxen präsentiert.

 

Aufgrund notwendiger vereinfachender Annahmen und bestehender Parameterunsicherheiten wurden umfangreiche Einweg‐ und Zweiweg‐Sensitivitätsanalysen und Szenarioanalysen durchgeführt. Hierbei wurden Modellparameter und Annahmen zu Überlebenswahrscheinlichkeiten, Teilnahmeraten, Kosten, Diskontrate und Testgüte variiert. Internationale methodische Leitlinien für die entscheidungsanalytische Modellierung, sowie Guidelines für die Berichtslegung von ökonomischen Evaluationen wurden berücksichtigt.

 

Ergebnisse

Nutzen

Für eine Kohorte von 1000 40‐jährigen Personen können bei kompletter Screeningteilnahme 394 zusätzliche Lebensjahre mit einem Koloskopie‐basierten Screening alle 10 Jahre (Alter 50‐70 Jahre), 480 zusätzliche Lebensjahre mit jährlichem gFOBT‐basiertem Screening (Alter 40‐75) und 491 zusätzliche Lebensjahre mit jährlichem FIT‐basierten Screening (Alter 40‐75) im Vergleich zur Strategie Kein Screening gewonnen werden. Die Koloskopie kann als Erwartungswert bis zu 31 KRK‐bedingte Todesfälle, und sowohl FIT als auch gFOBT bis zu 35 KRK‐bedingte Todesfälle pro 1000 gescreenten Personen verhindern. Bezüglich auftretender KRK‐Fälle können durch Koloskopie, gFOBT und FIT jeweils 62, 66 und 69 erwartete KRK‐Fälle pro 1000 gescreenten Personen vermieden werden.

 

Schaden

Die Kohorte von 1000 Personen unterliegt auch dem Risiko unbeabsichtigter screeningbedingter Nachteile und Schäden. Eine Koloskopie alle 10 Jahre kann zu 679 erwarteten positiven Testergebnissen führen, während ein jährliches FIT‐basiertes Screening zu etwa drei Mal so vielen positiven Testergebnissen und gFOBT zu mehr als vier Mal so vielen positiven Testergebnissen führen kann. In allen Strategien ist die Anzahl der zusätzlichen Komplikationen aufgrund einer Koloskopie, die zu einem Krankenhausaufenthalt führen, sehr gering, d.h., 1‐2 erwartete Fälle pro 1000 gescreenten Personen.

 

Nutzen‐Schaden‐Analyse

Einem durch das jährliche FIT‐basierte Screening (im Vergleich zur 10‐jährlichen Koloskopie) gewonnenen zusätzlichen Lebensjahr stehen 16 durch das FIT‐basierte Screening erzeugte zusätzliche positive Testergebnisse gegenüber. Diese auffälligen Testergebnisse stellen einen mehr oder weniger großen nicht intendierten psychologischen Schaden dar. Einem durch jährliches FIT‐basiertem Screening (im Vergleich zur Koloskopie) vermiedenen KRK‐bedingten Todesfall stehen mehr als 300 durch FIT erzeugte zusätzliche positive Testergebnisse gegenüber.

 

Kosten

Die durchschnittlichen diskontierten Kosten über die Lebenszeit pro Person betragen 1.138 EUR für die Strategie Kein Screening, 754 EUR für das Koloskopie‐basierte Screening, 1.352 EUR für das FIT‐basierte Screening und 1.398 EUR für das gFOBT‐basierte Screening.

 

Kosten‐Wirksamkeits‐Analyse

Die 10‐jährliche Koloskopie ist effektiv und kostensparend im Vergleich zur Strategie Kein Screening. Die Strategie Kein Screening wird durch alle anderen Strategien dominiert und die gFOBT‐basierte Screeningstrategie wird durch FIT‐basiertes Screening dominiert (d.h. ist unterlegen). Das bedeutet, dass ohne Screening höhere erwartete Kosten anfallen und die Lebenserwartung niedriger ist als beispielsweise mit einem Koloskopie‐basierten Screening. Ein gFOBT‐basiertes Screening verursacht höhere Kosten als ein FIT‐basiertes Screening, wobei auch mit gFOBT die geschätzte Lebenserwartung geringer ist als mit FIT. Der Übergang von einem Koloskopie‐basierten Screening zu einem FIT‐basierten Screening führt zu einem inkrementellen Kostennutzenverhältnis von 14.960 EUR pro zusätzlich gewonnenem Lebensjahr.

 

Sensitivitätsanalysen

Die Ergebnisse der Basisanalysen bezüglich Effektivität und Kosteneffektivität waren besonders sensitiv hinsichtlich der Annahmen zu Screeningteilnahmeraten, Sensitivität der Stuhltests sowie der Diskontrate. Unter der Annahme einer Teilnahmerate von 28% für die Koloskopie, 38,9% für FIT und 31,1% für gFOBT wird FIT dominant. In diesem Scenario wäre ein FIT‐basiertes Screening am kostengünstigsten und würde zu der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung führen. Die hierfür unterstellten Teilnahmeraten basieren auf österreichischen Erfahrungswerten, Expertenmeinung und internationalen Studien. Eine Diskontrate von 0% bzw. 10% führt zu einem IKEV für das FIT‐basierte Screening im Vergleich zum Koloskopie‐basierten Screening von 8.493 EUR/GLJ bzw. 58.131 EUR/GLJ. Eine Erhöhung der Kosten der Vorsorgekoloskopie (Koloskopie 352 EUR, Polypektomie 98 EUR) würde zu einer Erhöhung des IKEVs der FIT‐basierten Strategie im Vergleich zur Koloskopie‐basierten Screening auf 15.853 EUR/GLJ führen. In der Zweiweg‐Sensitivitätsanalyse bezüglich der Testsensitivitäten (FIT/gFOBT und Koloskopie) war abhängig von der Zahlungsbereitschaft entweder die FIT‐basierte oder die Koloskopiebasierte Strategie kosteneffektiv. Eine Erhöhung der Kosten für die stationäre Versorgung von Patienten im Krebsstadium IV basierend auf der Union for International Cancer Control Klassifikation (UICC) und die Berücksichtigung von Überlebenswahrscheinlichkeiten für Krebspatienten, die unabhängig von der Art der Diagnose (entdeckt durch Screening bzw. durch Symptome) sind, zeigten nur geringe Auswirkungen auf das IKEV.

 

Schlussfolgerungen

Organisierte Screening‐Programme mit jährlichem FIT‐Test oder 10‐jährlicher Koloskopie sind am effektivsten bezüglich der Restlebenserwartung. Die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen kann von den individuellen Präferenzen und Nutzen‐Schaden‐Abwägungen der einzelnen Person abhängen. Wenn die erste Wahl eine 10‐jährliche Koloskopie ist, ist diese Alternative kostensparend. Wenn die erste Wahl die Strategie mit jährlichem FIT‐Test ist, kann diese Alternative als kosteneffektiv angesehen werden, wenn die Zahlungsbereitschaft 15.000 EUR/GLJ oder mehr beträgt. Diese Ergebnisse könnten dazu beitragen, Entscheidungsträger, Kostenträger, Entwickler klinischer Leitlinien, die Ärzteschaft und Screeningkandidatinnen und ‐kandidaten bei ihren Entscheidungen zu unterstützen.

 

Unser entscheidungsanalytisches Modell basiert auf mehreren vereinfachenden Annahmen und besitzt mehrere Einschränkungen. Weitere Analyseschritte und zukünftige Forschung ist notwendig, um beispielsweise die Wirkung verschiedener Screeningintervalle und Kombinationen von Screeningstrategien, Sensitivität aufeinanderfolgender Screeningtests, erwartete Teilnahmeraten und die Auswirkung von Screening auf die individuelle gesundheitsbezogene Lebensqualität (d.h. beispielsweise auf qualitätsbereinigten Lebensjahre) zu bewerten. In einem nächsten Schritt könnte die Modellstruktur erweitert werden, um weitere Strategien, Funktionalitäten und zusätzliche Eigenschaften von den am Screening Teilnehmenden (z.B. Geschlecht, Risiko), Adenom und Krebs berücksichtigen zu können (z. B. unter Verwendung von Mikrosimulationstechniken). Zudem ist weitere Forschung erforderlich, um diese Ergebnisse transparent und verständlich der Öffentlichkeit zu vermitteln und individuelle Screeningkandidatinnen und –kandidaten umfassend und ausgewogen zu informieren und somit Entscheidungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und personenbezogene Entscheidungsfindung weiter zu verbessern und umzusetzen.

Zuletzt aktualisiert am 14. November 2020